«Indikatoren helfen uns, komplexe Phänomene zu verstehen»

Matthias Mazenauer und Andrea Schnell; Fotografin: Mirjam Kluka


Matthias Mazenauer und Andrea Schnell; Foto: Mirjam Kluka

Was haben die Wohnbevölkerung, das Bruttoinlandprodukt und die Anzahl freier Spitalbetten während der Corona-Pandemie gemeinsam? Alle drei sind Indikatoren. Was Indikatoren sind, wie sie entstehen und weshalb es sie braucht, das erklären Andrea Schnell und Matthias Mazenauer, die beim Statistischen Amt des Kantons Zürich täglich mit Indikatoren zu tun haben.

Andrea und Matthias, ihr leitet zusammen das Statistische Amt des Kantons Zürich. Weshalb macht ihr resp. das Statistische Amt mit beim Public Data Lab (PDL)?

Matthias: Das Statistische Amt ist zuständig für die öffentliche Statistik und Statistik beruht auf Daten, was public data erklärt. Das Lab finden wir eine spannende Form der Zusammenarbeit, weil es zu einem unserer Führungsgrundsätze, dem Experimentieren, passt. Es eröffnet Raum für Innovation, sowohl bei der Entwicklung als auch der Vermittlung von Indikatoren. Da lag die Zusammenarbeit mit der Universität Zürich (UZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) auf der Hand.

Andrea: Das PDL gibt uns die Möglichkeit, uns ausserhalb unserer Bubble auszutauschen und Bestehendes in Frage zu stellen. Die Datenwelt ist sehr dynamisch. Es gibt es immer mehr Organisationen und Private, die etwas messen und ihre Daten veröffentlichen. Als öffentliche Statistik müssen wir uns im Vergleich mit diesen Anbieter*innen behaupten und belegen, dass wir «das Richtige» messen und veröffentlichen. Zum Beispiel: Wie misst man Armut? Dahinter stehen eine Definition und ein Konzept, die vom Zweck und vom Referenzrahmen bestimmt werden. Da hilft es, wenn wir uns austauschen können, welche Definition für welchen Zweck die richtige ist.


Was genau ist eure Rolle innerhalb des PDL?

Andrea: Wir sind Praxispartner im PDL und bringen spannende Fragestellungen aus unserer Tätigkeit ins Projekt, um sie mit den Projektpartner*innen und/oder mit Studierenden zu diskutieren. Es können auch Fragen sein, bei denen wir aus unserer Verwaltungsperspektive heraus nicht mehr weiterkommen und uns Input von aussen wünschen. Daraus kann je nach Umfang und Komplexität eine Forschungskooperation oder eine Masterarbeit entstehen. Wir sind ausserdem Türöffner für Forschende in andere Verwaltungseinheiten und zu anderen Ämtern. Als Statistisches Amt arbeiten wir viel mit Menschen aus allen Fachbereichen in der Verwaltung zusammen. Diese Kontakte geben wir gerne weiter.


Was ist euer Ziel?

Matthias: Wir möchten zusammen mit der UZH und der ZHdK relevante Fragestellungen bearbeiten; Gemeinsam können wir Fragestellungen angehen, für die uns alleine die Ressourcen fehlen aber auch um unsere Komfortzone zu verlassen und durch neue Perspektiven unsere eigene Arbeit zu hinterfragen. Wir arbeiten für die Öffentlichkeit, d.h. unsere Indikatoren sollen verständlich und relevant sein. Das PDL gibt uns neue Inputs und erweitert unseren Horizont.

Andrea: Auch unsere Sprache soll verständlich sein. Wir setzen vielleicht gewisse Begriffe voraus, die nicht allen geläufig sind. Hier kann uns das PDL helfen, Sachverhalte anders zu formulieren, damit wir verstanden werden. Durch die öffentlichen Veranstaltungen, die das PDL plant, hoffen wir, einerseits die Aufmerksamkeit auf unsere Tätigkeit zu lenken: Was braucht es alles, um beispielsweise aus Daten, die aus administrativen Prozessen generiert werden, etwas zu machen, das die Qualität einer öffentlichen Statistik hat? Andererseits erhoffen wir uns, näher an die Nutzer*innen unserer Daten zu kommen und direkt mit ihnen zu sprechen. Das wäre für uns sehr spannend.


Wo seht ihr Herausforderungen?

Matthias: Zielkonflikte könnten eine Herausforderung sein, zum Beispiel Tempo versus Qualität. Wenn wir wieder die Masterarbeit als Beispiel nehmen: Studierende möchten vielleicht möglichst schnell fertig sein, während wir lieber noch einmal nachschlagen und nachprüfen würden. Bei der künstlerischen Umsetzung könnte es auch Zielkonflikte geben, wenn die Umsetzung sehr provokativ oder kritisch ist, für uns als Amt aber wichtig ist, dass wir politisch neutral und wertfrei kommunizieren. Ich glaube aber, dass diese Herausforderungen zu einem spannenden Diskurs anregen und wir sie meistern können.

Andrea: In diesem Zusammenhang ist uns auch wichtig, dass das PDL keine politische Schlagseite erhält. Wir sind parteiunabhängig und nicht normativ. Klar greifen wir politisch relevante Themen auf, aber wir achten auf eine thematische Ausgewogenheit. Ich bin zudem gespannt, wie wir die unterschiedlichen Fristen vereinbaren können. Zum Beispiel: Passen unsere Prozesse im Statistischen Amt zu einer Masterarbeit, die einen klar definierten Zeitrahmen hat? Erwarten wir zu schnell zu viel oder sind wir zu langsam? Ich habe aber die Erwartung, dass wir das gemeinsam schaffen. Eine weitere Herausforderung innerhalb des PDL ist für mich die Sprache: Meinen wir in den verschiedenen Disziplinen dasselbe, wenn wir denselben Begriff verwenden?

«Wir versuchen, Verhalten oder Entwicklungen anhand von Daten und Indikatoren fassbar zu machen.«

Andrea Schnell


Das PDL will Indikatoren entwickeln. Was sind Indikatoren?

Andrea: Indikatoren helfen uns, die Komplexität der Welt zu reduzieren. Wir versuchen, Verhalten oder Entwicklungen anhand von Daten und Indikatoren fassbar zu machen. Die Komplexitätsreduktion basiert auf ganz vielen Definitionen, damit klar ist, was wir ein- und ausschliessen. Das heisst, wir vereinfachen. Manchmal machen wir auch etwas Diffuses anhand von Definitionen fest. Über diese Definitionen und Inhalte kann man debattieren: Wie entwickelt sich ein Indikator? Messen wir das Richtige? Stimmt der Indikator mit der gesellschaftlichen Entwicklung überein oder muss er überarbeitet werden?

Matthias: Indikatoren sind ein Hilfsmittel. Sie stellen etwas dar, was nicht direkt messbar ist. Wir können nicht einfach einen Becher rausstellen und schauen, wie viel Regenwasser sich nach einer Stunde darin gesammelt hat. Wir entwickeln Konzepte dafür, wie man eine Entwicklung messen und über Zeit und Raum vergleichen kann.


Könntet ihr ein Beispiel für einen Indikator geben?

Andrea: Ausganspunkt ist eine Frage, beispielsweise ob Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt gleichgestellt sind und wie sich die Stellung beider über die Zeit entwickelt. Das lässt sich nicht direkt messen, aber es gibt verschiedene Indikatoren, die Hinweise geben können. Die Erwerbsquote sagt uns, wie stark Männer und Frauen am Arbeitsmarkt teilhaben. Mitthilfe der Löhne sehen wir, ob sie für gleichwertige Arbeit den gleichen Lohn erhalten. Und über ihre Vertretung in Unternehmensleitungen erfahren wir etwas über die berufliche Stellung der beiden Geschlechter. Wenn diese Indikatoren international koordiniert und über die Zeit immer auf dieselbe Art berechnet werden, erhalten wir belastbare Aussagen dazu, wie sich die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt entwickelt, und können diese in einen internationalen Kontext stellen.

Matthias: Die Arbeitslosenquote ist ein Indikator, den viele Leute intuitiv verstehen, weil er sich etabliert hat. Viele können die aktuelle Quote einordnen, aber die wenigsten wissen, wie sie genau definiert ist. Damit sich dieser Indikator überhaupt etablieren konnte, brauchte es verschiedene Definitionen, z. B. was heisst «arbeitslos», aber auch was bedeutet «erwerbstätig». Denn da es sich um eine Quote handelt, braucht es eine Referenz. Und über all diese Definitionen mussten sich die Beteiligten einig werden. Ein anderes Beispiel für einen Indikator, der auf den ersten Blick einfach scheint, aber auch verschieden definiert werden kann, ist die Bevölkerung des Kantons Zürichs: Sind es nur im Kanton Zürich gemeldete Personen? An welchem Ort zählt man Wochenaufenthalter*innen oder Personen mit einem Zweitwohnsitz? Wie geht man mit Personen aus dem Asylbereich um, die zugeteilt oder wieder umgeteilt werden? Wann ist der Stichtag?

Andrea: Die Stadt Zürich, der Kanton Zürich und das Bundesamt für Statistik (BfS) melden zum Beispiel für die Stadt Zürich je eine andere Bevölkerungszahl, weil jede Institution die Bevölkerung anders definiert. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Verwendungszweck: Geht es um die Belastung der Infrastruktur, den benötigten Wohnraum, um Steuern etc.?


Habt ihr ein Beispiel für einen komplizierteren Indikator?

Andrea: Das Bruttoinlandprodukt (BIP). Es ist ein international anerkanntes Konzept, aber viele Daten, die in die Berechnung dieses Indikators einfliessen, sind geschätzt. Es dauert einige Zeit, bis die relevanten Inputdaten für die Schätzung verfügbar sind, was bedeutet, dass man das BIP für ein Quartal erst im darauffolgenden Quartal bestimmen kann. Eine weitere Anforderung an einen Indikator ist, dass er zeitnah zur Verfügung steht, wobei zeitnah relativ ist. Bei Wahlen und Abstimmungen kennen wir das Resultat einige Stunden nach Urnenschluss. Während der Corona-Pandemie haben wir viele Indikatoren täglich berechnet.

Matthias: Während der Pandemie hat die Bevölkerung viel über Indikatoren gelernt, weil sie so präsent waren. Aber auch wir haben gelernt. Es gab zum Beispiel den Indikator «Freie Betten» auf den Intensivstationen der Spitäler. In der Diskussion haben wir als Gesellschaft gemeinsam gelernt, dass der Indikator nichts darüber aussagt, wie viele Patient*innen ein Spital noch aufnehmen kann. Denn nicht die Betten waren knapp, sondern die Beatmungsmaschinen und das Pflegepersonal. Gleichzeitig konnten wir aber nicht messen, wie viel freies Pflegepersonal es gibt.


Wie entsteht ein Indikator?

Andrea: Es kommt sehr selten vor, dass wir von uns aus einen Indikator definieren. Meist wird ein Indikator aus einem Bedürfnis heraus entwickelt und basiert auf einem Fachaustausch. Idealerweise wird der Indikator dann zwischen den Kantonen und auf Bundesebene abgestimmt, sodass alle das Phänomen gleich messen. Dabei ist die Datenverfügbarkeit eine Voraussetzung für einen Indikator: Die Daten, die in die Berechnung einfliessen, müssen in allen Kantonen erhoben werden und vorhanden sein.

Matthias: Wenn sich die Kantone über einen Indikator und darüber, was er misst, einigen, dann gewinnt er an Gewicht und Wert. Wir können dann die Zahlen unter den Kantonen vergleichen und erhalten ein Gespür dafür, was wenig und was viel ist. Wir können weiter über die Zeit vergleichen und sehen, ob es einen Trend gibt. Auch die Entstehungsweise hat sich verändert: Von 1850 bis 2000 gab es alle zehn Jahre eine Volkszählung, bei der die Bevölkerung schriftlich zu bestimmten Themen befragt worden ist. Heute wird viel mehr indirekt gemessen und daraus werden Indikatoren abgeleitet.  

«Wir versuchen, längerfristige Entwicklungen abzubilden. Was ist in 10 Jahren relevant? Und welche Daten können wir heute dafür erheben?»

Matthias Mazenauer


Wie wird dann die Vergleichbarkeit sichergestellt?

Matthias: Indem wir uns über die Definition des Indikators, die Datenmerkmale und darüber, wie wir messen, einigen, aber auch indem wir die Operationalisierung der Definition regeln. Beim Gebäude- und Wohnungsregister zum Beispiel ist in einer Weisung genau definiert, was ein Gebäude ist, wie es erfasst wird etc.

Andrea: Ändert die Berechnungsgrundlage, dann wird das als Methodenbruch per Stichtag in der Statistik angegeben. Das hatten wir bei verschiedenen Indikatoren, die seit der Abschaffung der Volkszählungen im Jahr 2000 registerbasiert erhoben werden. Aber auch eine Umstellung von einer Telefon- zu einer Onlinebefragung führt zu leicht anderen Antworten. Solche Methodenänderungen sind wichtig und werden in der Statistik erwähnt.

Matthias: Generell achten wir aber darauf, lange Zeitreihen zu haben. Wir versuchen, in die Zukunft zu schauen, um längerfristige Entwicklungen abzubilden. Was ist in 10 Jahren relevant? Und welche Daten können wir heute dafür erheben?

Andrea: Ein Beispiel ist die Erhebung des BfS, wie viele Haushalte in der Schweiz Internetzugang haben. Heute mutet diese Frage komisch an, aber im ersten Jahr der Erhebung, 2003, hatten erst 61% Internetzugang. 2023 wurde die Erhebung beendet, weil fast 100% der Haushalte über einen Internetanschluss verfügen. Auch über Homeoffice, beim BfS Teleheimarbeit genannt, gibt es seit 2014 eine Statistik. Was damals ein Nischenphänomen war, ist heute weit verbreitet.
Diese langen Zeitreihen oder ganz allgemein, eine öffentliche, unabhängige Statistik zu haben, ist heutzutage nicht selbstverständlich. Bewusst wird einem das erst, wenn es irgendwo zu einem Machtwechsel kommt, infolgedessen bestimmte Daten, wie zum Beispiel Schwangerschaftsabbrüche in den USA, nicht mehr veröffentlicht oder gar nicht mehr erfasst werden.


Letzte Frage: Welche Daten über den Kanton Zürich werden am meisten bezogen?

Andrea: Die Steuerfüsse, Bevölkerungsdaten sowie Boden- und Immobilienpreise. Nach einem Abstimmungs- oder Wahlsonntag sind es die Ergebnisse.


Matthias Mazenauer und Andrea Schnell
Matthias Mazenauer und Andrea Schnell

Andrea Schnell und Matthias Mazenauer leiten seit 2023 das Statistische Amt des Kantons Zürich in Co-Leitung.
Andrea hat Volkswirtschaftslehre studiert und als empirische Ökonomin bei verschiedenen Institutionen in der datenbasierten Wirtschaftsforschung gearbeitet. Sie befasst sich damit, wie relevante Entwicklungen identifiziert, mit statistischen Analysen unterlegt und in geeigneter Weise einem breiten Publikum kommuniziert werden können.
Matthias hat Politikwissenschaften studiert und später am Lehrstuhl für Consumer Behavior der ETH gearbeitet. Danach ist er im Data Management Team beim Statistischen Amt des Kantons Zürich eingestiegen, wo er sich anschliessend in weitere Teile des Datenwertschöpfungsprozesses vertieft hat, von der Analyse über die Aufbereitung bis zur Visualisierung von Daten.

Das Statistische Amt des Kantons Zürich versorgt die Bevölkerung, Unternehmen, die Politik und die Medien mit unabhängigen Daten und Analysen zum Kanton Zürich. Bei Urnengängen betreibt es das kantonale Wahl- und Abstimmungszentrum. Es gehört zur Direktion der Justiz und des Innern.
Es ist Praxispartner des Public Data Labs und bringt Fragen aus der Praxis ins Projekt, die wissenschaftlich untersucht werden könnten.

Nutzung der Indikatoren
Die Indikatoren des Kantons Zürich sind öffentlich und frei verfügbar. Wer online nicht fündig wird oder Einzeldaten für die Forschung sucht, kann eine Anfrage per Formular oder Telefon (043 259 75 00) stellen.
Das Statistische Amt berät Interessierte auch zu passenden Daten und darüber, wo diese gefunden werden können.

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